Likrat Public

Tagebuch einer Likratina Teil 2 – Ein bisschen Flexibilität und eine Einladung zum koscheren Zmittag

Endlich kann ich mit jüdischen Gästen in Kontakt treten. Werden auch sie positiv reagieren? Erleben sie die Einheimischen genau so freundlich und hilfsbereit wie ich? Ich mache mich auf die Suche nach Antworten.

Inzwischen ist es 10.30 Uhr. Nun möchten wir die Seite wechseln und jüdische Touristinnen und Touristen ansprechen. Das Dorf wirkt immer noch etwas verschlafen. Den zahlreichen jüdischen Gästen, die sich angeblich hier aufhalten, begegnen wir (noch) nicht. Ich werde mit einer Herausforderung des Projekts konfrontiert: Vermittlerinnen und Vermittler wissen nie, was als Nächstes auf sie zukommen wird. Wir müssen flexibel sein.

Mein erster Kontakt mit einem jüdischen Feriengast

So schlendern wir durch das Dorf und ich freue mich, als wir einem jüdischen Touristen begegnen Er gehört übrigens zu den Familien, die ich heute Morgen aus dem Fenster beobachten konnte. Das Saastal kennt er besser als ich. Er verbringt seit zehn Jahren jeden Sommer im gleichen Ferienhaus hier in Saas-Grund. So sind ihm auch die Schweizer Gepflogenheiten bekannt. Auf die Abfallsäcke blickend, die am Wegrand stehen, erzählt er, dass er sich selbstverständlich an die Regeln halte und gebührenpflichtige Abfallsäcke kaufe, auch wenn diese doppelt so teuer seien wie in seiner Heimat. Er kenne aber die Problematik, dass einige Touristinnen und Touristen ihren Abfall in öffentlichen Abfalleimern entsorgen würden. Sehe man, dass es sich um koschere Produkte handle, wirke sich dies auf alle jüdischen Besucherinnen und Besucher negativ aus.

Kulturelle Ungleichheiten ≠ religiöse Zugehörigkeit

Als nächstes stoppen wir bei einem Haus, das von jüdischen Familien aus England gemietet worden ist. Im Erdgeschoss, eigentlich ist es ein Restaurant, haben sie eine Synagoge eingerichtet. Einer der Mieter bittet uns herein und gibt uns freundlich und sehr ausführlich Auskunft über seine Erfahrungen als Feriengast in der Schweiz. Schon seit einigen Jahren kommt er in dieses Haus. Zu Beginn habe es der Vermieter nicht gerne gesehen, als sie im Gastraum die Tische verschoben haben. Doch sie würden den Raum jedes Jahr so hinterlassen, wie sie ihn angetroffen haben. Inzwischen wisse dies der Vermieter und das Thema komme nicht mehr zur Sprache. Kulturelle Unterschiede, unabhängig von der religiösen Zugehörigkeit, beobachte er immer wieder. So seien Schweizer beispielsweise sehr pünktlich. Er müsse nicht selten rennen, um die letzte Gondel ins Tal zu erreichen, erzählt er lachend. Er ist sich bewusst, dass jüdische Personen auf Grund ihres Aussehens manchmal als komisch bezeichnet werden, was den Austausch mit den Einheimischen erschwere.

Religion geht durch den Magen

In meinem Judentum nimmt das Thema Essen einen wichtigen Stellenwert ein. Ich stelle schmunzelnd fest, dass dies auch in diesem Haus so ist. Wir werden in eine Küche geführt, in der Töpfe auf dem Herd stehen und sich drei Personen um das Abendessen kümmern. Wer selbst nicht kochen mag, kann hier eine koschere Mahlzeit kaufen. Eigentlich sind wir, Likratino Tom, die Journalistin und ich, nicht wirklich hungrig. Die Einladung zum köstlichen koscheren Mittagessen schlagen wir aber nicht aus.

Ich spüre, dass sich diese Leute der kulturellen und religiösen Unterschiede bewusst sind. Sie beobachten sowohl die einheimische Bevölkerung und reflektieren sich selbst. Ich glaube, dies ist eine wichtige Kompetenz für ein friedliches Zusammenleben. Den Dialog zu führen, um Missverständnisse zu vermeiden, wird hier bereits praktiziert. So bin ich auch nicht erstaunt, dass sie unser Likrat Public-Projekt ausgezeichnet finden.

Eine erste Zwischenbilanz

Meine Erfahrungen heute sind allesamt positiv. Sowohl nichtjüdische als auch jüdische Begegnungen haben die Bedeutung des Dialogs betont und zeigen sich im Sinne des friedlichen Zusammenlebens kompromissbereit. Nichtsdestotrotz kommen Einheimische und jüdische Feriengäste kaum miteinander in Kontakt. Es scheinen Unsicherheiten im Umgang miteinander vorhanden zu sein. Wahrscheinlich ist es einfacher zu sagen, dass man bereit ist, aufeinander zuzugehen, als diesen Schritt in die Tat umzusetzen. Ich stelle mir die Frage, ob wir in den kommenden Tagen noch auf weniger verständnisvolle Personen treffen werden.

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