Tagebuch einer Likratina Teil 3 – Eine Bewährungsprobe für die Vermittlerin Lea
Ich kenne bereits einige Einheimische und jüdische Gäste in Saas-Grund. Aber wie ist die Stimmung zwischen den beiden Gruppen? Bei strahlendem Sonnenschein mache ich mich auf den Weg, um zu schauen, wo der Schuh drückt.
Die jüdischen Touristinnen und Touristen, die ich gerade noch gesucht hatte, sind offensichtlich in Saas-Grund angekommen. Heute prägen sie das Dorfbild. Ich bin in Begleitung einer Journalistin des Radios unterwegs. Vor einem Mikrofon zu sprechen ist für mich etwas Neues, doch meine grösste Sorge ist im Moment, ob ich die Walliser Journalistin verstehen werde.
Erste kritische Stimmen
Auf dem Postplatz sind viele jüdische Touristinnen und Touristen versammelt, die auf das Postauto in Richtung Saas-Fee warten. Ein Mann erzählt mir, dass sie bereits Auseinandersetzungen mit Einheimischen und einem Postautochauffeur gehabt hätten, weil ihre Gruppe, sie zählt 27 Personen, fast ein ganzes Postauto füllt. Deshalb habe man ihnen geraten, sich im Voraus anzumelden. Dieser Vorschlag stiess auf wenig Begeisterung. Sie wollten spontan entscheiden, wann sie wohin fahren. Ich kann seine Erklärung gut nachvollziehen.
Eine andere Person stört sich über die Vorwürfe, jüdische Touristinnen und Touristen würden nichts konsumieren. Er würde seinen Kindern gerne ein Eis kaufen, doch kein Bergrestaurant biete koschere Snacks an. Ich kann ihn beruhigen: Ich habe nämlich erfahren, dass geplant sei, in den Restaurants der Bergbahnen einige koschere Lebensmittel anzubieten.
Unverständnis bei Einheimischen
Nachdem alle Leute im Postauto Platz gefunden haben, können wir losfahren. Bei der Talstation nehme ich schliesslich zusammen mit zwei Frauen die Seilbahn zum Kreuzboden. Von der Kabine aus bestaune ich das prächtige Alpenpanorama – ich kann gut verstehen, weshalb man seine Ferien regelmässig hier verbringt. Meinen Sitznachbarinnen erkläre ich, in welcher Mission ich im Saastal unterwegs bin. Für die jüdischen Gäste haben die beiden nicht viel übrig. Sie hoffen sogar, dass die Anzahl nicht steigt. Sie würden sich mit ihren schwarzen Mänteln, langen Röcken und grossen Hüten unpassend kleiden. Jede Person sollte doch tragen dürfen, was sie wolle, werfe ich ein. Die Frauen stimmen eigentlich zu – aber eben nur eigentlich. Ob die jüdischen Besucherinnen und Besucher auch durch ihr Verhalten auffallen würden, möchte ich wissen. Erst verneinen sie, dann aber bezeichnen sie sie doch als manchmal rücksichtslos, weil sie oft in grossen Gruppen unterwegs seien. Ich bin etwas ratlos und muss eingestehen, dass es mir nicht gelungen ist, die Frauen zu überzeugen, dass man Leute nicht auf Grund ihrer Kleidung schubladisieren sollte.
Und es braucht uns doch
Mein Fazit fällt bisher derart positiv aus, dass mir sogar der Gedanke durch den Kopf geht, ob ich als Likratina überhaupt gebraucht werde. Am Abend weiss ich, dass es Likratinas und Likrations wie mich unbedingt braucht. Ich habe heute erlebt, dass es Situationen gibt, in denen sich die jüdischen Gäste und die einheimische Bevölkerung nicht verstehen. An diesem Punkt müssen wir ansetzen. Auch wenn wir nicht alle Unklarheiten, Missverständnisse und Vorurteile aus der Welt schaffen können, können wir doch zum Denken anregen. Dennoch hoffe ich, dass es in Zukunft allen so gehen wird wie mir: Die Befürchtung, sich nicht zu verstehen, erweist sich als unbegründet – ich habe die Walliser Journalistin problemlos verstanden.